Der Wert einer Bohne
Eine kleine Erzählung - Autor unbekannt
Eines Tages reiste ich in das Land, wo die Zitronen blühen. Nach längerer Autofahrt hielt ich am Abend in einem norditalienischen Städtchen an, um dort zu übernachten. Ich stellte mein Auto auf der Piazza ab, auf der noch andere Autos parkten, aß zu Abend und fiel müde ins Bett.
Als ich am nächsten Morgen aus dem Hotel trat, sah ich keine Piazza mehr. An ihrer Stelle war ein Markt, auf dem reges Treiben herrschte. Von den Autos fehlte jede Spur. Ich war verwirrt und wandte mich an den Hotelbesitzer. Kurz darauf wusste ich zwar, dass ich das entsprechende Hinweisschild übersehen hatte, nur, wie ich mein Auto zurückerhielte, wusste ich nicht.
Die Zeit drängte. In einer Stunde wollte ich am Zielort sein und hatte noch ein ziemliches Stück Weg vor mir. Da kam ein Italiener auf mich zu, der alles mit angehört hatte. Er sprach meine Sprache besser, als ich seine. Er sagte, ich solle mich nicht sorgen und mich in das Café setzten. Er würde das Auto beschaffen. Mir war die Angelegenheit nicht ganz geheuer. Trotzdem händigte ich ihm die Autoschlüssel aus, begab mich – wie er geraten hatte – in das Straßencafé nebenan und wartete.
Die Zeit verging und immer öfters sah ich nervös auf die Uhr. Mir wurde klar, dass die Tagung ohne mich anfangen würde. Es war nicht mehr zu ändern. Zuerst war ich verärgert und dachte: „Nun war die lange Reise vergeblich!“ Doch nach einer Weile verflog mein Ärger. Mir blieb nichts anderes übrig. Ich musste mich mit der Situation abfinden. Allmählich versuchte ich, mich zu entspannen und sah dem Leben auf der Straße zu. Ich wurde ermuntert, ein Stück Kuchen zu probieren, wechselte ein paar Worte mit der Signora hinter dem Buffet und ließ allem seinen Lauf. Ich genoss den sonnigen Vormittag – wenn auch gezwungenermaßen.
Da hupte es. Mein Wagen stand wieder da. Der hilfsbereite Einheimische hatte ihn von einem Platz vor der Stadt abgeholt. Er hatte mit den Leuten verhandelt, so dass nicht einmal eine Gebühr fällig wurde. Als ich mich bedanken wollte, winkte er ab. Keine Lira wollte er annehmen. Lediglich zu einem Espresso ließ er sich überreden.
Ich berichtete, wie ich es mir in der Zwischenzeit hatte gut gehen lassen und bemerkte mit einem lachenden und einem weinenden Auge, es sei doch viel gesünder, das Leben zwischendurch zu genießen, als nur von Termin zu Termin zu jagen.
Er schmunzelte und murmelte, dann hätte ich es ja dem alten Grafen gleichgetan. Da ich das nicht verstand, sagte er, in seiner Heimat erzähle man sich die Geschichte von einem Grafen, der sehr, sehr alt wurde, weil er sein Leben zu genießen versuchte.
Er verließ niemals sein Haus, ohne sich vorher eine Handvoll Bohnen einzustecken. Er tat dies nicht etwa, um die Bohnen zu verkaufen. Nein, er nahm sie mit, um die schönen Momente des Tages bewusster wahr zu nehmen und um sie besser zählen zu können. Für jede positive Kleinigkeit, die er tagsüber erlebte – zum Beispiel einen fröhlichen Plausch auf der Straße, das Lachen seiner Frau, ein köstliches Mahl, eine feine Zigarre, einen schattigen Platz in der Mittagshitze, ein Glas guten Weines – für alles, was die Sinne erfreute, ließ er eine Bohne von der rechten in die linke Jackentasche gleiten. Manchmal waren es gleich zwei oder drei.
Abends saß er dann zu Hause und zählte die Bohnen aus der linken Tasche. Er zelebrierte diese Minuten. So führte er sich vor Augen, wie viel Schönes ihm an diesem Tag widerfahren war und freute sich. Und sogar an einem Abend, an dem er bloß eine Bohne zählte, war der Tag gelungen, hatte es sich zu leben gelohnt.
Ich fuhr weiter und nahm diese kleine Geschichte mit auf den Weg. Seither sind viele Jahre vergangen. Das Lebensrezept des alten Grafen aber ist mir geblieben. Den Bohnentrick habe ich im Alltag übernommen. Und da einfache Rezepte oft wirkungsvoller sind als mancher ausgefeilte Vortrag, habe ich ihn bereits häufig weitergegeben. So bin ich für jenen Zwischenfall in Italien heute noch dankbar. Ich weiß, ich kann nicht nur, sondern ich muss den positiven Kleinigkeiten jeden Tag Beachtung schenken. Und vieles ist mir seither „Eine Bohne wert!“